Montag, März 03, 2008

Cornell Woolrich: Die Nacht hat tausend Augen



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Jetzt war es hell draußen vor dem kleinen Restaurant, die Nacht war vorüber, und die Sterne waren verschwunden. Im Inneren bemerkte Shawn, daß die Lampen an den Wän­den gegen das heller werdende Tageslicht einen aussichtslo­sen Kampf geführt hatten. Sie waren zu schmutziggelben Kugeln verblaßt, die das Licht in sich abschlossen, ohne etwas nach außen abzugeben. Als sie schließlich alle auf ein­mal ausgingen, ausgelöscht durch einen Hauptschalter, war der Unterschied nicht wahrnehmbar.

Draußen wurde es immer heller. Das Blau verschwand allmählich, mehr und mehr Weiß sickerte ein. Dann ver­wandelte sich das Weiß in ein warmes Gelb, der Tag war mit voller Kraft angebrochen. Die gelegentlich vor den Fen­stern vorbeigehenden Gestalten wurden immer zahlreicher und zeichneten sich deutlicher ab. Aus verschwommenen, anonymen Silhouetten wurden dreidimensionale Fußgän­ger, vollständig und ausgeformt, mit eigenen Schatten, die hinter ihnen über das Glas glitten. Selbst die Spiegelschrift auf dem Glas hatte jetzt einen eigenen Schatten, der weit da­hinter, im Inneren auf dem Fußboden lag: CAFE.

Ein Bus schaltete herunter, das Geräusch drang zu ihnen in die Stille. Einen Augenblick später konnte man es klirren hören, als eine Münze in die Kasse gesteckt wurde. Danach glitt der Bus brummend vorbei und verschwand. Draußen fegte der Kellner die Straße, man hörte das Zischen und Kratzen seines Besens auf dem Gehsteig, ein kräftiges Weg­stoßen, dann eine Pause, wenn er ihn wieder zurückzog. Jemand löste die Schnur einer Markise über einem Stand oder einem Schaufenster, und sie kam mit einem gummi­artigen Klatschen herunter.

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Aus:
Cornell Woolrich: Die Nacht hat tausend Augen
Zürich, 1989