Montag, März 03, 2008

ICH WAR GOLD: Die Tagebücher der Anaïs Nin (1947 - 1955) / LSD

(Der Text ist stark gekürzt. Nur Visuelles blieb drin. s. "Motto" dieses blogs)

In English here: Anais Nin’s Doors of Perception

(...)

Zuerst schien alles unverändert. Aber nach einiger Zeit, vielleicht nach zwanzig Minuten, bemerkte ich als erstes, daß der Teppich nicht länger flach und leblos war, sondern sich in ein Feld bewegter und wogender Haare verwandelt hatte, wie Seeanemonen oder ein Weizenfeld im Wind. Dann bemerkte ich, daß Türen, Wände und Fenster sich verflüssigten. Alles Starre verschwand. Es war, als sei ich auf den Grund des Meeres gestürzt, wo alles wogte und schwankte. Die Türgriffe waren nicht länger Tür­griffe; sie schmolzen und wiegten sich wie lebendige Schlan­gen. Jeder Gegenstand im Zimmer wurde zu einer lebendi­gen, beweglichen, atmenden Welt.

Ich ging in den Flur, von dem aus man mehrere kleinere Zimmer erreichte. Auf dem Weg war eine Tür, die in den Garten führte. Die Strahlen der Sonne blendeten mich, jeder der gol­denen Sonnenflecke vervielfachte und vergrößerte sich. Bäume, Wolken, Rasen hoben und senkten sich; die Wolken flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit vorbei.

Ich wen­dete meinen Blick vom Garten ab und der glatten Tür zu, auf der delikate persische Muster, Blumen, Mandalas, Ornamente in perfekter Symmetrie erschienen. Während ich sie entwarf, verströmten sie ihre Musik. Wenn ich eine lange orangefarbene Linie zog, entströmte ihr ein orange­ner Ton. Mein Körper schwamm und flog. Ich fühlte mich fröhlich, unbeschwert und spielerisch. Es bestand eine voll­kommene Beziehung zwischen meinem Körper und allem, was passierte. Zum Beispiel bereiteten mir die Farben der Ornamente ebenso großen Genuß wie die Musik. Der Ge­sang der Spottdrosseln wurde vervielfältigt, und sie klan­gen wie ein ganzer Wald singender Vögel. Meine Sinne wurden vervielfältigt, als habe ich hundert Augen, hun­dert Ohren, hundert Fingerspitzen. Die Wandgemälde, die erschienen, waren vollendet, sie waren orientalisch, zer­brechlich und meisterhaft, aber dann verwandelten sie sich in orientalische Städte mit Pagoden, Tempeln, üppigen chinesischen Altären in Gold und Rot und in balinesische Musik. Die Musik vibrierte durch meinen Körper, als sei ich eines der Instrumente, und ich fühlte, daß ich zu einem ganzen Schlagzeugorchester wurde, grün wurde, blau und orange. Die Tonwellen rannen durch meine Haare wie eine Liebkosung. Die Musik glitt den Rücken hinunter und kam aus meinen Fingerspitzen. Ich war eine Kaskade rot-blauen Regens, ein Regenbogen. Ich war klein, leicht, beweglich. Ich konnte auf jede Art, die ich mir wünschte, schweben. Ich konnte mich auflösen; ich konnte schmelzen, gleiten, mich aufschwingen. Kleine Lichtwellen umflossen meine Kleider, phosphoreszierende Strahlen. Ich konnte mit mei­nem dritten Auge eine neue Welt sehen, eine Welt, die mir vorher entgangen war. Ich entdeckte Bilder hinter Bildern, die Mauern hinter dem Himmel, den Himmel hinter dem Unendlichen. Die Mauern wurden zu Fontänen, die Fon­tänen zu Bögen, die Kuppeln zu Himmeln, der Himmel ein blütenbedeckter Teppich, und alles löste sich auf in reinen Raum. Ich blickte auf eine zarte Linie, die sich in den Raum wölbte und in die Unendlichkeit verschwand. Ich sah eine Million Nullen auf dieser Linie, dem Bogen folgend, in der Entfernung kleiner werdend, und ich lachte. (...)

Ich stand allein am Rand eines Planeten. Ich konnte das schnelle Dahinbrausen der Planeten hören, die sich im Raum drehten. Dann bewegte ich mich zwischen den Planeten, und ich erkannte, daß ein gewisses Maß an Geschicklichkeit notwendig sein würde, um mit dieser neuen Art der Beförderung zurechtzukom­men. Mich selbst im Raum stehen zu sehen, wie ich ver­suchte, meine »Raumbeine« zu erreichen, amüsierte mich. Ich fragte mich, wer vor mir dagewesen war, und ob ich zur Erde zurückkehren würde. (...)

Zwei Empfindungen begannen mich zu quälen: daß alles zu schnell geschah und ich nicht in der Lage sein würde, mich daran zu erinnern, und daß ich nicht in der Lage sein würde, mitzuteilen, was ich sah, es war alles zu flüchtig und zu überwältigend. Die Tempel wuchsen höher, die Musik wurde wilder, es ent­stand eine Flutwelle von Tönen, in der Gongs und Glocken überwogen. Goldspitzen verströmten langanhaltende Flö­tentöne. Jede Linie und jede Farbe atmete und veränderte sich unaufhörlich.
Da begann ich zu bemerken, daß ich beim Atmen Schwierigkeiten hatte. Mir war schrecklich kalt, und ich fühlte mich in meinem Cape sehr klein, als hätte ich eine Verwand­lung wie Alice im Wunderland durchgemacht. (...)

Ich legte mich hin und deckte mich zu. Ich rauchte eine Zigarette. Ich blickte auf die Vorhänge des Zimmers, und sie verwandelten sich in gazeartiges Gold. Der gesamte Raum war von Gold erfüllt wie von einer kraftvollen Sonne. Die Wände wurden golden, die Bettdecke war aus Gold, mein ganzer Körper wurde zu Gold, flüssiges Gold, funkelndes, warmes Gold. ICH WAR GOLD. Es war die lustvollste Empfindung, die ich je hatte. Es war das Geheimnis des Lebens, das alchemistische Geheimnis des Lebens. Aus dem Gefühl strenger Kälte, dem Gefühl chloroformiert zu sein, aus dem Verlust der Schwer­kraft in den Beinen und aus dem Gefühl der Verkleinerung, glitt ich hinein in die Empfindung, Gold zu sein. Plötzlich weinte ich, weinte ich. Ich konnte die Tränen fühlen und ich sah das Taschentuch in meiner Hand. Ich weinte bis zum Punkt völliger Auflösung. (...)

Ich beobachtete einen Küstensaum mit golde­nen Wellen, die sich an Felsen aus Goldstaub brachen, zu Goldschaum wurden und zu goldenem Haar, schimmernd und vibrierend, erfüllt von goldenen Freuden. Ich fühlte, daß ich das Geheimnis ergreifen könnte, denn das Geheimnis des Lebens lag in der Metamorphose und Transmuta­tion, aber es verschwand zu schnell und war jenseits von Worten. (...)

Die Tagebücher der Anaïs Nin (1947 - 1955)
Fischer Taschenbuch Verlag, 1981, S. 364-369